Interview Helge Kühnel (Vater an der MBS) zur Wahl der weiterführenden Schule

Helge Kühnel, Vater einer Tochter in der 7. Klasse und eines Sohnes in der 4. Klasse an der MBS, hat der Szene Hamburg ein Interview gegeben zur Wahl der weiterführenden Schule und darin erläutert, warum er trotz möglicher Widrigkeiten bei der Umsetzung des Ganztagsschulbetriebs und der inklusiven Beschulung die Stadtteilschule als Schulform und die Max-Brauer-Schule im Besonderen für die beste Wahl für seine Kinder hält:

 

SZENE MAGAZIN: Herr Kühnel, Ihre Tochter Charlotte besucht die Max Brauer Schule. War es für Sie deshalb selbstverständlich, Ihren Sohn Viktor ebenso an derselben Stadtteilschule anzumelden?

Helge Kühnel: Wir haben da schon ziemlich genau geguckt. Da Charlotte jetzt in der sieben Klasse die Max Brauer Schule besucht, haben wir einen Einblick wie es in der Sekundarstufe eins ist. Aber das, was wir von Charlotte kennen, kann sich noch ganz anders für Viktor entwickeln. Schließlich sind die Schulen auch Veränderungen unterworfen, das gilt insbesondere aufgrund der Einführung der Ganztagsschule und der Implementierung der Inklusion.

Aber den Ganztagsschulbetrieb gibt es an der Max Brauer Schule doch schon länger? 

Ja, die Max Brauer Schule hat schon einen gewissen Vorteil, weil sie die Ganztagsschule schon früher eingeführt hat. Aber es beschäftigt die Schule immer noch, den Ganztagsbetrieb, der teilweise von Honorarkräften angeboten wird, in den Gesamtschulalltag einzubetten. Neben dem Ganztagsschulbetrieb ist vor allem die Inklusion die Herausforderung schlechthin für die Stadtteilschulen. An den Gymnasien kann man die Inklusionskinder suchen. Das Thema betrifft dann doch eher die Stadtteilschulen. Da wird die Arbeit bewältigt.

Was bedeutet die Inklusion für die Max Brauer Schule? 

Es gibt einen Kess-Faktor, eine Art Sozialfaktor, der bewertet, in welchem sozialen Umfeld sich die Schüler bewegen. An den Faktor gekoppelt sind die Ressourcen, die die Schule zuerkannt bekommt. Dann geht es zum Beispiel um die Klassengrößen und personelle Ressourcen. Das stimmt bei uns nicht ganz überein. Pro Jahrgang hätte die Max Brauer Schule normalerweise viel weniger Inklusionskinder haben müssen. Aber in der Realität haben wir mehr Kinder.

Wie viele Inklusionskinder sind bei Charlotte in der Klasse?

Eigentlich sollten es etwa ein bis zwei Kinder pro Klasse sein. Jetzt gibt es in Charlottes Klasse vier Inklusionsinder bei insgesamt 26 Schülern. In der Umsetzung muss nachgesteuert werden und es kann meiner Meinung nach auch nachgesteuert werden.

Das spricht aber nicht gerade für eine gut durchdachte Umsetzung?

Aber Ich finde, man sollte unterscheiden zwischen dem Prinzip Inklusion auf der einen Seite und der praktischen Umsetzung auf der anderen. Die Inklusion ist der hundertprozentig richtige Weg, der zum Teil schon sehr gut funktioniert. Ich weiß nicht, wie es an anderen Schulen aussieht, aber an der Max Brauer Schule wird die Inklusion ganz gut im praktischen Betrieb umgesetzt. Da aber die Zahlen andere sind als man bei der Planung vermutet hatte, muss man nachsteuern. Wenn man feststellt, dass man andere Räume und hier und da noch mehr Sozialpädagogen braucht, dann muss dies es auch möglich gemacht werden, durch die Politik.

Weil es aber gerade in der praktischen Umsetzung der Inklusion an den Stadtteilschulen hapert und es an Ressourcen fehlt, schicken Eltern ihre Kinder lieber aufs Gymnasium.

Ich finde, das ist die falsche Entscheidung. Ich würde mir immer erst überlegen, was für ein Lernkonzept ich für meine Kinder haben möchte, unabhängig von den praktischen Unwägbarkeiten, die es gibt. Nach dem Lernkonzept würde ich die Schule auswählen und dann versuchen, daran zu arbeiten, dass das Konzept auch praktisch umgesetzt wird.

Aber wie sollen Eltern das machen?

Über Elternarbeit an der Schule kann man auch als Mutter oder Vater etwas zu tun. Ich bin ganz optimistisch, dass an den Stadtteilschulen in der Inklusion bald nachgesteuert wird.

Was macht sie da so optimistisch?

Es gibt ja die Volksinitiative Guter Ganztag, die viel an extra Mitteln bewirkt hat, da es ja auch Optimierungsbedarf in der Umsetzung des Ganztagsschulbetriebs gab. Und jetzt hat sich gerade eine neue Volksinitiative Inklusion gegründet. Das ist relativ frisch. Vor einigen Tagen ging das per Mail herum. Es dauert meistens ein bisschen in der Schulbehörde bis die Signale gehört werden, aber sie werden irgendwann dann doch gehört.

Was sind die Forderungen der Initiative?

Mehr Ressourcen, wo sie benötigt werden. Für mich gehören auch räumliche Bedingungen dazu. Der große Unterschied zwischen Stadtteilschulen und Gymnasien ist, dass an Stadtteilschulen individualisiert gefördert wird. Das lässt sich sicherlich auch in einer Gruppe im Klassenraum bis zu einem gewissen Grad bewerkstelligen. Es hilft aber, wenn an den Klassenraum noch ein weiterer kleinerer Raum gekoppelt wird, in dem die Schüler in kleineren Gruppen arbeiten können. Dadurch kann man das Lernen noch deutlich differenzierter gestalten. Ich finde, es ist eine falsche Herangehensweise, eine Schulform lieber nicht zu wählen, nur weil dort vielleicht nicht sofort alles klappen sollte.

Aber es geht ja schließlich um die eigenen Kinder?

Ja, vielleicht sind meine Kinder die der Versuchsphase und der Anlaufphase. Deshalb aber auf etwas Verstaubtes und nicht mehr Zeitgemäßes zu setzen, ist nicht meine Art, damit umzugehen. Ich passe lieber die Realität meinen Zielen an als umgekehrt.

Hätte Ihre Tochter Charlotte denn auch aufs Gymnasium gehen können?

Charlotte hätte ohne weiteres aufs Gymnasium gehen können. Aber wir haben zehn Jahre in Holland gewohnt und waren an ein Schulsystem gewöhnt, das bis hoch in die Mittelstufe durchlässig ist, während man sich hier in Deutschland ab der vierten Klasse ziemlich festlegt. Für mich ist die Gesamt- oder Gemeinschaftsschule nach wie vor ein erstrebenswertes Schulprinzip, wenn es gut umgesetzt wird.

Was gefällt Ihnen daran?

Ich finde das selbstorganisierte Lernen toll. Das heißt, dass die Kinder in ihrem eigenen Tempo und nach ihren Neigungen lernen können. Natürlich müssen die Lehrer auch ihren Lehrplan erfüllen. Die Kinder müssen, wenn sie das Abitur an der Stadtteilschule ablegen, letztendlich in den Fächern das Niveau vorweisen, was an den Gymnasien auch erwartet wird. Aber die Art und Weise wie man dahin kommt, ist unterschiedlich. An der Max Brauer Schule können die Kinder im so genannten Lernbüro selber bestimmen, dass sie zum Beispiel zunächst gerne in Mathe noch verstärkt Aufgaben lösen. Am Gymnasium hingegen, wo die ganze Klasse denselben Lernstoff im selben Umfang und Aufgaben mit denselben Schwierigkeitsgraden bekommen, müssen Unterschiede in Neigungen und Fähigkeiten mit Nachhilfe ausgeglichen werden. Kinder sind einfach unterschiedlich. Und ich finde es gerade großartig, wenn wie an der Max Brauer Schule so viele unterschiedliche Kinder verschiedene Herkunftsländer und Bildungshintergrunde vertreten sind.

Warum?

Weil es die Gesellschaft abbildet. Auch die leistungsstarken Kinder mit Gymnasialempfehlung gehören dazu. Weil es sie in der Klasse gibt, funktioniert das Prinzip des Miteinander Lernens auch so gut. Das haben wir bei Charlotte gesehen.

Was passiert, wenn es diese leistungsstarken Schüler an einer Stadtteilschule nicht mehr geben sollte?

Das würde es schwieriger machen. Etwa 30% der Schüler an der Max Brauer Schule haben eine Gymnasialempfehlung. Das ist ein guter Schnitt. Damit kann man gut arbeiten. Nicht nur die leistungsschwächeren Schüler bekommen eine individuelle Förderung. Es gibt auch Förderlehrer für die begabten Kinder. Inklusion richtet sich nicht nur an schwache und verhaltensauffällige Kinder, sondern an alle Kinder. Viktor hat zum Beispiel mit zwei seiner Mitschüler an einer Begabtenförderung teilgenommen. Auch das gibt es an der Stadtteilschule. Das muss man ganz klar mal sagen, weil viele denken, die Stadtteilschule sei eine Resteschule.

Ein Schwerpunkt an der Max-Brauer-Schule ist der Projektunterricht. Wie haben die Kinder davon?

Das sind Sechs-Wochen-Projekte, zum Beispiel zum Thema Mittelalter. Da wird historisch geforscht, wird geschaut, wie sich die Leute kleiden. Es werden Gedichte geschrieben und Texte gelesen. Das Ziel ist, fächerübergreifend zu lehren und zu lernen, und das funktioniert auch relativ gut. Der Stoff wird in Gruppen erarbeitet und am Ende präsentiert. Ich bin immer erstaunt, wie gut schon unser Viktor und seine Mitschüler ihre Ergebnisse präsentieren können. Wie sortiert sie kommunizieren können, was sie gelernt haben. Das konnte ich in dem Alter nicht.

Können Sie schon absehen, welchen Abschluss Charlotte macht?

Sie ist hoch motiviert und ist auch ziemlich gut und sie will auf jeden Fall Abitur machen. Es gibt auch Rückkoppelung von Universitäten, dass die Max-Brauer-Abiturienten gern genommen werden, weil sie gelernt haben, wie man sich selbstständig Dinge erarbeitet. Hausarbeiten kriegen sie locker hin, Präsentationen auch, und sie können sich ausdrücken. Im Sozial- und Gruppenverhalten lernen sie auch unglaublich viel, besonders was Konfliktmanagement angeht. Wenn sich jemand komplett daneben benimmt, wird ihm das schon klar gemacht, aber er wird nicht aus der Gruppe gestoßen. Die Kinder lernen, wie sie damit umgehen, wenn sie anderer Meinung sind, wenn sie enttäuscht oder wütend sind.

Wie implementieren die Klassenlehrer das in den Unterricht? Gibt es eine Art Ritual?

In der Grundschule setzen sich die Lehrer mit den Kindern am Anfang des Tages zusammen und sprechen solche Sachen ganz offen an. Jüngeren Schülern werden ältere in den Pausen an die Seite gestellt und sind Streitschlichter. Natürlich gibt es da auch Cliquen, Macht- und Ränkespiele. Ich glaube, die Schüler werden extrem ernst genommen und können sich in das Gegenüber hineindenken.  Es gibt regelmäßig Situationen, in denen es richtig kracht und große Themen unter Mitschülern gewälzt werden. Aber die Schüler gehen sehr reflektiert und reif damit um. Neben all dem Wissen, was man so lernt ist die Sozialkompetenz mindestens genauso wichtig, wenn nicht wichtiger. Ich glaube, die Schüler lernen das auch, wenn sie sich selber organisieren müssen und in wechselnden Konstellationen Gruppenarbeit machen. Und das bietet die Stadtteilschule. Ich höre zwar immer, dass teilweise die Gymnasien Dinge des individualisierten Lernens übernehmen wollen. Aber in der Praxis ist es meistens nach wie vor der Frontalunterricht. Ich denke, die Stadtteilschule ist auf jeden Fall eine Schulform, auf die Eltern ihre Kinder guten Gewissens schicken können.

Welches Kind wäre auf dem Gymnasium richtig?

Ich glaube, es gibt Kinder, die sich nicht selbst organisieren können und Schwierigkeiten haben, sich Ziele zu stecken und einzuhalten. Kinder, die eine klare Ansage und klare Struktur brauchen und mit der Freiheit überfordert sind, sind vielleicht auf einem Gymnasium besser aufgehoben. Allerdings werden die Kinder ja begleitet. Es ist nicht Freiheit im Sinne von „freier Fall“. Wenn die Lehrer merken, dass ein Kind nicht zurechtkommt, nehmen sie sich dem an. Für mich ist die Tatsache, dass so viele Eltern mit ihren Kindern ans Gymnasium flüchten ein Signal für die Entsolidarisierung der Gesellschaft. Letztendlich müssen doch alle hier zusammen in Hamburg wohnen und miteinander klar kommen. Mein Kind kommt jedenfalls überall, in jedem Stadtteil Hamburgs, klar. Sie wird nicht erschrecken, weil Kinder anders aussehen. Mit unterschiedlichen Kindern umzugehen, ist für sie keine Herausforderung, sondern eine Selbstverständlichkeit.

 

Das Interview führte Bianca Wilkens.

 

Das Sonderheft der Szene Hamburg zum Thema „Schule“ ist am 20. Januar erschienen.

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